Was wir von Porzellanfiguren auf dem Klavier lernen können

Was wir von Porzellanfiguren auf dem Klavier lernen können

Wir sitzen in einem Meeting und der Kollege spricht so leise, dass wir ihn kaum verstehen können. Warum tut er das? Will er, dass alle an seinen Lippen hängen und keiner sich traut sich zu bewegen? Hat er ein Lautstärkennivellierungsproblem? Ist sein Hörgerät falsch eingestellt?

Ich weiß es nicht.

Aber  etwas in mir geht „an“. Ich spüre die Wut in mir hochsteigen. Ich kenne dieses Gefühl, diese Wut übermannte mich als Kind, wenn meine älteren Geschwister mich nicht ernst nahmen, ich mich ausgegrenzt fühlte.

Nun höre ich wirklich nichts mehr. Das Blut rauscht in meinen Ohren. Mein Reptiliengehirn ist an. Das kann doch nicht sein, dass ich mich so aufrege, nur weil der Kollege leise spricht!

Begegnen wir uns als Menschen, so schwingen wir miteinander. Das kann schön sein, dann schwingen wir gleich, es entsteht etwas größeres als die Summe der Teile, eine Melodie, ein Team im flow. Das kann sich aber auch nicht schön anfühlen. Wie gerade eben.

Auf dem Klavier meiner Eltern stehen Nachbildungen kleiner pummeliger Kinder in Porzellan verewigt. Es ist Adventszeit. Jedes Mal, wenn wir zu Gast bei meinen Eltern sind, setze ich mich an das Klavier meiner Kindheit und spiele. Und was passiert? Es scheppert. Gewaltig. Diese mit ihrer Niedlichkeit kokettierenden Porzellanfiguren verhindern ein schönes Klangerlebnis, da sie mit einigen angeschlagenen Tasten in Resonanz gehen.

So ist das auch mit uns Menschen.

Der eine tut etwas, der andere empfindet es als Störung. Vielleicht spricht jemand zu laut (bei ihm zu Hause musste laut gesprochen werden, damit er sich gegen die vielen Geschwister durchsetzen konnte, der Vater war schwerhörig, Lautstärke galt als Zeichen einer glücklichen, lebendigen Familie). Vielleicht spricht jemand zu leise (bei ihm wohnte die kranke Oma mit im Haus oder die Nerven der Mutter mussten geschont werden). Nun sitzen wir also im Meeting. Ich, bei der Lautstärke ein Zeichen von Authentizität war und mein Kollege, bei dem Stille ein Zeichen von Wertschätzung war.

Da schwingt etwas.

Was mir in diesen Momenten hilft: das Gegenüber nicht der Vorsätzlichkeit zu beschuldigen. Tue ich das, dann will ich Recht haben. Habe ich ja auch. In meiner Welt. Aber eben auch nur da. Nachfragen und ehrliches Interesse am anderen helfen mir weiter. Helfen mir zu verstehen. Die Geschichten, die mir mein Gehirn über die Welt erzählt an der Realität abgleichen. Das ist mutig. Und plötzlich ist mein krampfender Magen wieder entspannt.

The most dangerous psychological mistake is the projection of the shadow on the others: this is the root of almost all conflicts. (CG Jung)